3. Gefangennahme in Borkheide
In einer Waldlichtung finden mein mich stützender Kamerad und ich einen Eimer voll kunstgerecht zerlegten Schweinefleisches. Weit und breit ist niemand zu sehen, und trotz einiger Bedenken nehmen wir den Eimer mit. Im nächsten Ort machen wir Halt, auch weil mir das Gehen immer schwerer fällt. Wir gelangen in die Bahnhofsgaststätte, in der sich schätzungsweise 80-100 Soldaten aufhalten. Man schläft, ißt oder ruht sich nur kurz aus. Wir aber gehen in die Küche, um von unserm erbeuteten Fleisch etwas Eßbares zuzubereiten. Den Rest bekommen andere Männer nach Belieben. Das Fleisch sättigt uns, nur Kartoffeln oder Brot dazu fehlen. Nach dieser Mahlzeit sehe ich mich im Hause um und finde im großen Saal eine Menge Verwundeter auf Strohschütten liegen. Die Bewohner dieses Ortes, Borkheide der Name, haben die Umgebung nach Verwundeten abgesucht und hier zusammengelegt. Transportmöglichkeiten bestehen nicht mehr, der letzte Zug hat am Vortage den Bahnhof passiert. Wer nicht mehr laufen kann, findet keinen andern Ausweg als diesen: Hier bleiben und auf die Russen warten! Das gilt auch für mich. Müde und mit Schmerzen lege ich mich zu den andern, dem Schicksal ergeben.
In der Nacht hören wir zeitweise Schießereien, uns geschieht aber nichts. Frauen versorgen uns, so gut sie können. Auch ein geflüchteter Arzt aus Berlin tut sein Bestes.
Am Morgen des 1. Mai ist es dann soweit: Hereingestürmt kommt eine größere Schar russischer Infanteristen.Sie sehen uns liegen, nehmen noch vorhandene Waffen ab und machen uns klar, daß der Krieg für uns zu Ende ist. »Woina kapuut! Chitler nix gutt! Alle nach Chause!« so klingen ihre Worte. Die Russen, kämpfende Einheit, sind im übrigen sehr korrekt, fast schon kameradschaftlich und bringen uns ofenfrisches, noch warmes Brot. Und schon sind sie wieder verschwunden. Am Nachmittag erscheint ein Offizier mit seinem Stab und ordnet unsere Verlegung in das »Haus Bork« an, ein Internatsgebäude, in dem eine Art Hilfslazarett eingerichtet werden soll.
Nach unserer Gefangennahme, als nun endlich die Schießereien aufhören und wir die seit Monaten vermißte Stille genießen, hören wir, daß Hitler tot sei. Und einem der Kameraden entschlüpft eine Bemerkung, die alle übrigen empört, als er sagt: »Nun ist er endlich tot, dann haben wir den Krieg doch noch gewonnen!« – Ja, so war es noch am 1. Mai 1945: Das ganze kriegerische Geschehen, der totale Zusammenbruch, alle Zerstörungen, Vertreibungen und unmenschliche Strapazen, die Flut von Blut und Tränen hatten in uns Jungen die Ideale des 3. Reiches und den »Glauben an den Führer« nicht zerstören können. Wir waren - natürlich bei weitem nicht alle - davon überzeugt, daß uns das »Böse« besiegt hatte, wenngleich wir wohl meinten, daß der Krieg nach der Besiegung Frankreichs hätte aufhören müssen. Nun also ist Hitler tot, und wir lernen schnell, »den Mund zu halten«, unsere Gedanken und Gefühle zu zähmen. Denn eines geht, wenn auch anders, weiter: der Kampf ums Überleben, die Sorge, ob und wann wir die Heimat und unsere Lieben wiedersehen werden.
4. Hilfslazarett Borkheide
Manche humpelnd, alle anderen Verwundeten auf Wagen aller Art gefahren, vollzieht sich der Umzug vom Bahnhof in das »Haus Bork«. Ich werde in ein Zimmer gebracht, das irgendwie so gelegen ist, daß es gar leicht übersehen werden kann. Und so geschieht es auch! Zwei volle Tage später erst entdeckt mich eine Schwester. Ich hatte inzwischen Wundrose bekommen, bin sehr krank. Neben einem Stückchen Brot habe ich, zuletzt versteckt unter der Tarnjacke, die »erbeutete« Schachtel mit den Zigaretten. Das viele Rauchen, so meint hinterher der Arzt, habe die Krankheit besiegt und mir das Leben gerettet. Ich komme nun in ein freundliches Zimmer, das bereits mit fünf Mann belegt ist. Bald geht es mir besser. Der Steckschuß eitert allmählich heraus. Das Projektil ist mir später leider verlorengegangen. Der 8. Mai, der Tag der Kapitulation, geht spurlos an uns vorüber. Nur: Rote Fahnen »schmücken« das Haus, Fahnen, aus denen das Kreisrund des Hakenkreuzes herausgeschnitten und mit rotem Tuch zugenäht worden ist.
An einem dieser Tage meldet sich bei mir ein 16jähriger Junge aus Flensburg, der südlich von Berlin als Flakhelfer eingesetzt gewesen ist, Peter Samuelsen (der Jahrzehnte später lange Zeit Stadtbrandmeister von Flensburg sein wird). Er schließt sich mir an, und gemeinsam wollen wir versuchen, unsere Heimat zu erreichen. Er ist gesund, unverletzt, und die Ärzte erlauben es ihm zu bleiben, bis ich genesen bin. Überhaupt, den drei Berliner Ärzten, die sich Anfang Mai zufällig in Borkheide aufhalten bzw. hier ein Sommerhaus besitzen, haben wir viel zu danken! Dauernd sind sie, neben der Krankenbehandlung, unterwegs, mal mit russischer Unterstützung und mal ohne, all das zusammenzuschnorren, was ein Lazarett benötigt und vor allem auch, um die Insassen täglich einigermaßen satt zubekommen. (Nebenbei bemerkt: Häufig gibt es ein Gericht, von dem ich bisher noch nie gehört habe: Lungenhaschee.)
Als Chef des Lazaretts fungiert ein sowjetischer Offizier. Wir sehen ihn selten und werden kaum belästigt. - Ende Mai darf ich aufstehen und bald auch in dem großen Garten spazierengehen. Hier befindet sich u. a. eine Art Stallgebäude, in dem ein großer Sack Zuckerschnitzel ausgeschüttet liegt, vom dem wir öfter einige nehmen, um den Hunger etwas zu mildern. Eines Tages verlasse ich auch das Areal des Hauses Bork (200 Meter dürfen wir uns entfernen) und gelange zu einem Gebäude (ist es eine Schule gewesen?), auf dessen Hof ich in einer Ecke einen hohen Haufen von Büchern entdecke, Schriften aller Art, viele hundert Bände, jedem Wetter ausgesetzt, NS-Schrifttum natürlich, aber auch Klassiker u. a. Eine Landkarte der Mark Brandenburg nehme ich mit. Neben dem Bücherberg liegt eine große Anzahl unbrauchbar gemachter Gewehre der Wehrmacht, auch Jagdwaffen. Auf einem riesigen Transparent steht zu lesen: »Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk wird immer bestehen.« Das klingt tröstlich und versöhnlich, ist es doch ein kürzlich ausgesprochener Gedanke des »ruhmreichen Vaters aller Werktätigen, des großen Siegers, des besten Freundes der Deutschen, des Bezwingers allen Unrechts auf Erden, des wahren Menschenfreundes und weisen Beglückers, des Väterchen Stalin.« (Originalton der sowj. Propaganda.) Kann man ihm trauen?
Die ersten »Friedenswochen« gehen dahin. Patienten gesunden, einige aber erliegen ihren Verwundungen. Die Stimmung unter den Genesenden ist im allgemeinen gut, nicht zuletzt aus der Freude heraus, daß man offensichtlich »davongekommen« ist. Ein kleiner Teil der Insassen besteht aus »Zivilisten«, dabei auch eine Amerikanerin mit ihrer 15jährigen Tochter Texi. Letztere kann schön singen und trägt viel zur Unterhaltung der Männer bei. Sie und ihre Mutter warten auf die Möglichkeit der Heimreise nach den USA, die sicher eher gelingen wird als unsere im eigenen Land!
Fortsetzung folgt demnächst!