7. Über die Havel
Die Nacht im Strohdiemen geht schnell zu Ende, die Sonne weckt uns gegen 4 Uhr. Wir bleiben aber noch ein paar Stunden in unserem Versteck und beobachten die Umgebung. Erst zu der Zeit, wenn überall die Arbeit beginnt, wagen wir uns auf den Weg. Mein »Gepäck« besteht aus einer alten Aktentasche, in der sich u. a. etwas Wäsche, eine Blockflöte, Zahnputzzeug und die in Borkheide gefundene Landkarte von Brandenburg befinden. Die Karte hilft uns bei der Orientierung. Das Ziel des ersten Tages ist die Stadt Brandenburg an der Havel und ein wenig darüber hinaus. Vorsichtig pirschen wir uns durch die Dörfer und erreichen als ersten größeren Ort Lehnin. Dieser Ortsname, bei dem man ja das »h« nicht hört, hat nicht den besten Klang in meinen Ohren, wie man sich denken kann. Lenin ist wohl schon lange tot, aber sein Nachfolger Stalin lebt. Und überall, in allen Dörfern prangen große Transparente und Plakate, Riesenbilder vom »Väterchen Stalin« mit den inzwischen sattsam bekannten Parolen. Er sieht so ungeheuer »menschlich« aus, so daß mancher Deutscher nach und nach bereit ist, ihm seine Menschlichkeit abzunehmen. Nun, für solche Gedanken haben wir wenig Sinn und Muße und streben nahezu rastlos auf Brandenburg zu. Schon am frühen Nachmittag kommen wir dort an, zuerst durch Kleingartenkolonien und dann auch in die Innenstadt. Viele Menschen bevölkern die Straßen. Wir werden dreister und tun ganz so, als wohnten wir hier. Russen überall und viele Häuser , in Schutt und Asche liegend, lassen uns aber nicht vergessen, wo wir sind. Wir überqueren die Havel und gelangen auf das rechte Ufer. Ohne besondere Vorkommnisse verlassen wir die Stadt. Würde mir jetzt jemand erzählen, daß ich 13 Monate später Brandenburg wiedersehen würde, als Lehrer zu einem dreiwöchigen Seminar, - ich weiß nicht, ob mich das gefreut oder bange gemacht hätte!
8. Rathenow—Hohenauen
Gegen Abend, in einem kleinen Dorf haben wir Glück: Eine freundliche ältere Frau in ihrem Garten spricht uns an und fragt uns, wohin wir noch wollen. Wir kommen mit ihr in ein Gespräch und vertrauen ihr an, daß unser Ziel Schleswig- Holstein, unsere Heimat ist. Kurz und schlicht erklärt sie uns: »Mein Sohn ist wahrscheinlich auch unterwegs nach Hause, wie ihr. Ich will nur hoffen, daß er ebenfalls auf Leute trifft, die ihm weiterhelfen, so wie ich euch nun helfen will!« Sie nimmt uns mit in ihr Haus, »füttert« uns erstmal mit leckeren Bratkartoffeln und bringt uns in ein abgelegenes Zimmer, ohne Fenster, mit einem breiten Bett. »Hier könnt ihr heute nacht schlafen. Diese Stube finden die Russen, die oftmals nachts in die Häuser kommen, um sich dieses oder jenes zu holen, bestimmt nicht!« So verleben Peter und ich eine ruhige, erholsame Nacht, und am Morgen bekommen wir noch ein kleines Frühstück dazu. Wir bedanken uns bei den freundlichen Leuten und setzen unsere »Wanderung« fort. Heute soll die Gegend von Rhinow erreicht werden. Herrliche Landschaften mit Kiefernwäldern, Aleen und stillen Seen ziehen an uns vorüber. Aber so recht freuen können wir uns daran nicht. Wir schleichen vorsichtig durch Straßen, an Häusern und Ortschaften vorbei, und wo immer es möglich ist, gehen wir russischen Soldaten aus dem Weg, vor denen man nirgends sicher ist. An dieser Strecke ist es auch, daß der Wind aus einem Waldstück einen süßlichen Geruch verbreitet, wahrscheinlich von gefallenen Soldaten, die noch in den letzten Kriegstagen ums Leben gekommen und deren Leichen nicht oder nicht ordentlich unter die Erde gebracht worden sind. Und das nach fast zwei Monaten!
Die Brillenstadt Rathenow umgehen wir östlich, und nicht weit davon haben wir abermals Glück, als uns barmherzige Leute zu einem feinen Mittagessen einladen. Ich weiß nicht, ob sie »schwarzgeschlachtet« haben, jedenfalls gibt es kräftige Schlachtersuppe, so wie wir sie von zu Hause kennen, wenn vor Weihnachten Schlachtfest ist. Auch an diese Menschen werden wir uns dankbar erinnern!
Am Nachmittag passieren wir - in einiger Entfernung - den Ort Hohenauen, ein Name, der mich stark an unser Hohenau in Langballigholz denken läßt und uns ansport, nicht aufzugeben.
Hier in der Nähe erleben wir etwas, daß uns nachdenklich macht und tief erschüttert. Binnen einer Stunde ziehen zwei »Marschkolonnen« an uns vorbei. (Beide Male sitzen wir in einem sicheren Versteck.) Der erste Zug ist schon lange vorher zu hören. Da wird gerufen, gesungen, gelacht. Es handelt sich um Franzosen, die wohl in Deutschland zwangsgearbeitet haben und auf dem Weg in die Heimat sind. Sie sitzen auf Pferdewagen, haben Fahrräder bei sich oder gehen zu Fuß, haben sich geschmückt mit Fahnen und Blumen. Ein fröhliches Bild! - Die zweite Kolonne bewegt sich in Gegenrichtung, ostwärts. Es sind deutsche Soldaten, Gefangene, von russischen Posten scharf bewacht, auf dem Weg ins Gefangenenlager. Grau die alten Uniformen, grau die Gesichter, und ohne Hoffnung schlurfen sie mit hängenden Köpfen lautlos an uns vorbei. Und in einer solchen Kolonne sehe ich mich gehen, hätten Peter und ich uns nicht vor drei Tagen »selbständig« gemacht oder sollte man uns doch noch schnappen. - Zwischen Rhinow und Friesack packen wir uns übermüde in einen frischen Heudiemen zur Ruhe, weit weg von Straßen und Häusern.
Fortsetzung folgt demnächst!